Zwangsarbeit in Beckum in der Zeit von 1939 bis 1945

Vortrag zur Buchvorstellung am 25.1.2024 in der Sparkasse Beckum-Wadersloh von Reinhold Sudbrock.

Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren,  ich freue mich, Ihnen heute mein Buch über die Zwangsarbeit in Beckum in der Zeit von 1939 bis 1945 vorstellen zu können.                                                      

Gehen wir einmal zurück in das Jahr 1939: Der 2. Weltkrieg begann am 1. September  mit dem deutschen Überfall auf Polen. Polen war rasch besiegt und die Wehrmacht begann sofort mit dem Abtransport polnischer Kriegsgefangener nach Deutschland. Sie sollten in  Industrie, Bergbau und Landwirtschaft die Männer ersetzen, die zur Wehrmacht eingezogen waren.

Daneben hatten  deutsche Arbeitsämter in Polen die Aufgabe, weitere zivile Arbeitskräfte nach Deutschland zu schaffen.  Eine freiwilige Anwerbung und auch eine Gestellungspflicht der polnischen Kommunen brachte keinen Erfolg. Deshalb kam es ab  Frühjahr 1940 bis zum Ende des Krieges   zu Zwangsrekrutierungen und  Razzien durch die Deutsche Polizei,  Wehrmacht und  SS.  Hierbei wurden Männer, Frauen, Jugendliche, teils Kinder von der Straße verschleppt und nach Deutschland transportiert. Nach Beckum kamen die ersten polnischen Kriegsgefangenen schon im Oktober 1939 für die Zementindustrie.

Nach dem Angriff auf Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg kam es dann  ab Sommer  1940, ab  1941 auch aus Rußland und der Ukraine  zu einem Einsatz   von Zwangsarbeitern aus diesen Ländern, sowohl als Kriegsgefangene wie auch als Zivilarbeiter.

Im Sommer 1944 waren in Deutschland etwa 7,5 Mio Menschen zur Zwangsarbeit gezwungen, davon etwa 5,5 Mio zivile Zwangsarbeiter.

Unvergessen ist auch bis heute in den Niederlanden die große Razzia am 10. November 1944 in Rotterdam, bei der etwa 50.000 Männer erfasst und zum größten Teil nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurden.

 

Nun zu Beckum

Bis Ende des 2. Weltkrieges wurden mindestens 1.100 zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gegen ihren Willen nach Beckum gebracht und hier zur Arbeit gezwungen. Die Namen dieser Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter werden in meinem Buch genannt, ebenso die Betriebe, in denen sie arbeiten mussten und auch die Orte, meistens Lager, in denen sie in Beckum untergebracht waren.

Woher sind diese Angaben bekannt?

Für das heutige Beckum waren damals drei verschiedene Kommunen zuständig: Die Stadt Beckum, das Amt Beckum, zu dem auch Vellern und das Kirchspiel Beckum mit den Bauerschaften gehörten  und das Amt Ennigerloh-Neubeckum.

  • Die alten Aktenbestände dieser Kommunen, aber auch die alten Melderegister für Zwangsarbeiter befinden sich heute im Kreisarchiv in Warendorf. Das Kreisarchiv hat vor einigen Jahren diese Melderegister digital zusammengefasst. Aus dieser kreisweiten Liste habe ich die Namen der Zwangsarbeiter und der Betriebe für die Stadt Beckum, einschließlich Neubeckum und Vellern entnommen.
  • Viele Informationen habe ich aus dem Arolsen-Archiv, dem Internationalen Zentrum für die Naziverfolgung. So z.B. Akten der  damaligen Landesversicherungsanstalt oder der Betriebskrankenkassen.  Die zivilen Zwangsarbeiter mussten nämlich, wie andere deutsche Arbeiter auch,  gegen Krankheit und Unfälle versichert sein.
  • Und nach Kriegsende mussten die Stadtverwaltung und die Beckumer Betriebe, in denen Zwangsarbeiter gearbeitet hatten, Listen mit den Namen den Alliierten zur Verfügung stellen.
  • Ebenso mussten die Krankenhäuser in Beckum und Neubeckum Patientenlisten von Ausländern über Behandlungen während der Kriegszeit erstellen.

 

Zur Gesamtzahl der  Zwangsarbeiter in Beckum

  • 859 zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind für Beckum belegt durch die gemeindlichen Melderegister beim Kreisarchiv, meist mit Namen, Geburtsdatum, Geburtsort sowie Angabe des Betriebes in Beckum, in dem sie arbeiten mussten und dem Ort der Unterbringung.
  • Zusätzlich 245 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den Listen der AOK und der Betriebskrankenkassen. Diese Zahl umfasst nur diejenigen, die nicht schon in der Kreisliste genannt werden. Dazu kommen 18 Namen ziviler Zwangsarbeiter bei der Ellinghaus.

Das sind insgesamt 1122  namentlich bekannte, meist zivile  Zwangsarbeiter. Davon sind 259 Franzosen, 199 Russen, 179 Polen, 150 Niederländer, 126 Ukrainer, 91 Italiener, 45 Belgier und 14 Jugoslawen.

  • Dazu kommen etwa 950 kriegsgefangene Die meisten ohne Namensangabe, aber mit Angabe der jeweiligen Lager, gemeldet vom Arbeitsamt Ahlen nach Kriegsende an die Alliierten.
  • Ferner Listen der beiden Krankenhäuser in Beckum und Neubeckum über ausländische Patienten, meistens mit Namen und Geburtsdatum, Verweildauer und Art der Krankheit:

Im Elis. Krankenhaus Beckum 332 Personen, im Josefskrankenhaus in Neubeckum 82 Personen.

  • Dazu kommen weitere Listen aus dem Arolsen-Archiv über Zwangsarbeiter im Polizei- und im Gerichtsgefängnis von Beckum:

310 im Polizeigefängnis und 113 im Gerichtsgefängnis.     Und noch 21 Verurteilungen von Zwangsarbeitern durch das Amtsgericht Beckum.

Das heißt, bis Ende des Krieges sind in Beckum mindestens  2000 Zwangsarbeiter, zivile und kriegsgefangene belegt, die Zahlen aus den Krankenhäusern und Gefängnissen, das sind insgesamt 871, nicht mitgerechnet, da ich die meisten nicht sicher Beckum zuordnen  konnte. Die Namen nenne ich aber in meinem Buch.

Zum Status der zivilen und der kriegsgefangenen Zwangsarbeiter

In den Betrieben arbeiteten zivile und kriegsgefangene Zwangsarbeiter oft nebeneinander. Während die zivilen Zwangsarbeiter den Landesarbeitsämtern unterstanden, war für die kriegsgefangenen Zwangsarbeiter ausschließlich die Wehrmacht zuständig.

Die zivilen Zwangsarbeiter mussten von ihren Arbeitgebern bei den Meldeämtern und auch bei den Allgemeinen- oder Betriebskrankenkassen angemeldet werden., was aber häufig unterblieb.

Die kriegsgefangenen Zwangsarbeiter unterstanden seit ihrer Gefangennahme nur der Wehrmacht. Die Wehrmacht meldete die Kriegsgefangenen nicht bei den kommunalen Stellen an. Wenn wir in Beckum doch Namen von Kriegsgefangenen kennen, dann deshalb, weil einige Betriebe, wie die Zementfabrik Elsa in Neubeckum, ihre Kriegsgefangenen auch bei den Kommunen angemeldet haben.

Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen, auf unsere westlichen Nachbarn und ganz besonders im Juni 1941 auf die Sowjetunion waren hunderttausende Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Hierfür wurden im Deutschen Reich schnell riesige Kriegsgefangenenlager benötigt.

Die Kriegsgefangen kamen in sog. Stammlager, abgekürzt Stalags, auch in Westfalen; in unserer Region in die Stalags Hemer, Dortmund und Senne in Stukenbrock. Die hohe Todesrate unter den Russen lag anfangs durchaus in der Absicht der politischen Führung, die in dem Krieg einen Vernichtungsfeldzug gegen die russische Bevölkerung sah. Besonders aus dem zunächst nur für Russen vorgesehenen Stalag Senne in Stukenbrock sind unvorstellbare Schilderungen bekannt.  Der Einsatz der Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter musste von den Betrieben beantragt werden. In der Regel ging das über die Kreisbauernschaft oder die Arbeitsämter, große Betriebe verhandelten auch direkt mit den Stalags. Für die zivilen Zwangsarbeiter musste der Antrag über die Stadt an das Arbeitsamt gestellt werden.

Zur Arbeit in den Betrieben

In Beckum waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter  hauptsächlich in der Zementindustrie, im Maschinenbau, der Landwirtschaft und beim kriegswichtigen Bahnhof in Neubeckum eingesetzt, aber auch in Geschäften und in Haushalten.

Für den Umgang der Bevölkerung mit den Zwangsarbeitern  waren genaue Regeln ergangen, so  auch über das Verhalten der Bauern gegenüber den Zwangsarbeitern:

Kriegsgefangene durften nicht allein mit Frauen oder Kindern auf dem Feld arbeiten, Kriegsgefangene durften auch nicht am Tisch mit den Bauern ihre Mahlzeiten einnehmen.

Anfang 1940 wurden verschärfte Regeln für die zivilen Zwangsarbeiter, die Polenerlasse und 1942 die Ostarbeitererlasse beschlossen. Danach mussten die Polen ein besonderes Stoffabzeichen, ein „P“ fest auf ihrer Kleidung tragen, die  Ukrainer und die Russen, ein Abzeichen „Ost“.

Die zivilen Zwangsarbeiter erhielten geringeren Lohn als die deutschen Arbeiter, durften den jeweiligen Ort nicht verlassen, keine Gaststätten oder Kinos besuchen und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Ab 22 Uhr durften sie ihren Unterbringungsort nicht mehr verlassen. Das wurde auch in Beckum kontrolliert.

Die Bauern und die Betriebe hatten für jeden kriegsgefangenen Zwangsarbeiter 6 Reichspfennige pro Arbeitsstunde an die Wehrmacht abzuführen. Die Zwangsarbeiter selbst hatten nach internationalem Recht Anspruch auf Entlohnung.

Zur Entlohnung der Zwangsarbeiter berichtete die damalige Spar- und Darlehenskasse in Beckum  über das Lager Dalmer 1946 an die Alliierten:

Zu zahlen waren pro Tag und pro Mann insgesamt  0,70 RM, den franz. Angehörigen wurde dieser Betrag voll ausgezahlt, da diese zivil bei den einzelnen Arbeitgebern untergebracht und verpflegt wurden, den russ. Angehörigen wurden  0,35 RM je Mann (und Tag) an das Stalag (VI F Bocholt) überwiesen, da diese in einem Lager untergebracht waren“. Das waren  dann etwa 9 RM pro Monat, die das Stalag an die Angehörigen in Russland überweisen sollte.

Bei zivilen Zwangsarbeitern werden  für Beckum Löhne von ca 20 RM/Monat in den Akten genannt.

Die Lager in Beckum

Die Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft wohnten teilweise  auf den Bauernhöfen, teilweise aber auch in speziellen Lagern in den Bauerschaften. Für die Zwangsarbeiter in der Industrie waren meistens besondere Lager, z.B. bei den Zementwerken errichtet worden. Aber auch über die gesamte Stadt verteilt wohnten Zwangsarbeiter, die in Geschäften und Haushalten arbeiten mussten. Allein in Beckum waren Zwangsarbeiter in mindestens 156 Betrieben und Haushalten eingesetzt, in Neubeckum in 35 und in Vellern in 24 Betrieben und Haushalten.

 

Insgesamt sind nach Aktenlage im Stadtgebiet von Beckum 9 Lager für Kriegsgefangene und 8 Lager für zivile Zwangsarbeiter bekannt, in Neubeckum 7 Lager für Kriegsgefangene und 4 Lager für zivile Zwangsarbeiter. In Vellern gab es 1 Lager für Kriegsgefangene.

Auf den großen Bauernhöfen waren bis zu 18 Zwangsarbeiter untergebracht. Das gößte Lager für Kriegsgefangene war in Beckum bei der damaligen Gaststätte Schmiebusch in der Neustraße mit 71 Franzosen, in Neubeckum beim Zementwerk Elsa mit 102 kriegsgefangenen Zwangsarbeitern, auch Franzosen.

 

Das größte Sammellager in Beckum für zivile Zwangsarbeiter befand sich  hier an der Ecke Weststraße/Hühlstraße, genau hier , wo sich heute die Sparkasse Beckum-Wadersloh befindet. Das Lager war konzipiert für 150 Frauen aus Russland, der Ukraine und Polen, wurde aber später auch für Männer genutzt. Das Gebäude, ein umgebauter Pferdestall, gehörte ursprünglich dem jüdischen Bürger Phillip Windmüller, der Beckum im Herbst 1939 mit seiner Familie verlassen hat. Dieses Gebäude hat die Stadt Beckum 1943, zunächst für die Dauer des Krieges – so steht es im Vertrag -, an die „Gesellschaft Ostarbeiterinnenlager Beckum“ für 200 RM monatlich vermietet. Diese Gesellschaft finanzierte sich dann über die Betriebe, die ihre Zwangsarbeiter hier unterbrachten. Letztlich zahlten aber die Zwangsarbeiter selbst, denn „Unterbringung und Kost“ wurden vom Lohn abgezogen.

 

Aus diesem und den anderen Sammellagern wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter dann jeden Morgen durch die Stadt zu ihren Arbeitsstellen geführt.

 

Hierzu gibt es den Bericht einer Zeitzeugin, Gertrud L.:

Als Kind ging Gertud L.  in die Elisabethschule, die früher am Standort der heutigen Bücherei in der Clemens-August-Straße stand. Sie musste dazu über die Nordstraße, die damals Adolf-Schürmann-Straße hieß, bis zur Elisabethstraße, damals Saarlandstraße, gehen. Auf ihrem Weg zur Schule sah sie morgens häufig eine Gruppe Zwangsarbeiterinnen auf der Nordstraße, die von Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren begleitet, an ihre Einsatzorte zur Arbeit gebracht wurden. Sie sagt:

 

“ Einmal sah ich eine Frau, die bettelte um mein Butterbrot. Ich gab der Frau mein Brot, aber der Soldat, der die Szene beobachtet hatte, entriss es ihr, warf es auf die Straße und zertrat es.“

 

Der in Beckum geborene Hermann Helming erinnert sich in seiner Autobiographie an einen tragischen Vorfall beim Zementwerk Bomke u. Bleckmann, heute Holcim, Werk Kollenbach; er schreibt:

„ mein Vater wurde zur Zementfabrik Bomke u. Bleckmann gerufen (der Vater war Arzt am Beckumer Krankenhaus). Dort waren etwa zwanzig russische Kriegsgefangene angekommen zur Arbeit. Die Frau, die sie zu versorgen hatte, sah die verhungernden Gestalten und kochte ihnen eine kräftige münsterländische Kartoffelsuppe mit viel Speck – zwölf starben –mein Vater konnte nicht helfen – nur die Frau für die Zukunft aufklären“.

Es ist nicht bekannt, wo diese 12 Kriegsgefangenen beerdigt sind. Im Sterbebuch der Stadt Beckum sind sie nicht aufgeführt, deshalb kennen wir auch keine Namen.

Eine weitere Zeitzeugin:

Maria N.  aus Beckum: „Abends sah man die Zwangsarbeiterinnen von Herkules ins Lager (ehem. Windmüller) gehen: Die konnten nicht mehr; eine blieb völlig erschöpft stehen. Mutter schickte mich mit einem Butterbrot; die Arbeiterin bedankte sich stumm. - Die französischen Kriegsgefangenen wurden besser behandelt.“

In Neubeckum war besonders das Lager Lourenkamp berüchtigt, das nördlich der Bahnstrecke Richtung Vorhelm lag. Die Aufgabe der Lourenkamparbeiter war die sofortige Reparatur der Bahnanlagen und die Wiederinbetriebnahme nach Zerstörungen durch Fliegerangriffe. Von den russischen Arbeitern wird berichtet, dass sie die zerstörten Gleise „unter strengster Aufsicht und andauernder Prügel mit Reitpeitschen zu reparieren“ hatten. Der damalige deutsche Rottenführer, so haben Zeitzeugen berichtet, wurde dann auch nach der Befreiung durch die Zwangsarbeiter erschlagen.

 

Heinrich Knop  aus Neubeckum sagt dazu: „Russische Kriegsgefangene vegetierten im Lourenkamp … ihnen ging es in jeder Hinsicht schlecht; sie mussten hungern und nicht selten erbettelten sie sich im Dorf zusätzliche Nahrung nach der Formel: Ein Kommissbrot gegen einen Ring aus Messing, den sie bei Balcke aus Messingschrauben feilten.“

 

Über die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Beckum ist außer den  Daten in meiner Arbeit fast nichts bekannt. Es gibt nur zwei Fotos von zwei Kriegsgefangenen, einem aus Yugoslawien und  einem aus Frankreich.

Darum ist es mir wichtig, nicht nur die Gesamtzahl der Zwangsarbeiter, sondern auch ihre Namen zu nennen.

Liest man die Daten genauer, gibt es   bei den Polen wohl in einigen Fällen familiäre Bindungen. Es fällt einige Male eine Namensgleichheit auf, die mit dem Wohnort und Alter auf Eheleute, Geschwister oder Eltern/Kind-Beziehungen schließen lässt.

Ich möchte das an einem Beispiel aufzeigen:

In meiner Liste stehen die Kinder Stanislawa, Greslaw und Casimir Kubiak, 1931 bis 1933 in Paniewo geboren, das ist ca. 100 km nördlich von Lodz. Dazu Marianna Kubiak, geboren 1913 in Paniewo und Wladislaw Kubiak, geboren 1906. Im Arolsenarchiv gibt es dazu eine Meldekarte der Stadt Beckum. Danach sind das die Eltern. Am 19.7.44 wurde für sie in Beckum diese Meldekarte angelegt, darauf ist auch die Zwangsarbeit bei Herkules und die  Unterbringung hier im Ostarbeiterlager genannt.  Aber wie ist das zu erklären? Sind sie als Familie gemeinsam verschleppt worden? Das jüngste Kind war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt.

Marianna Kubiak hat dann am 9.10.44 noch ein Kind, Jadwiga, in Beckum geboren.

 

Bei den Ukrainern gibt es auch familiäre Bindungen, z.B. bei den Zwillingen   Pawel und Leonid Schumski aus der Ukraine, mit 17 Jahren zur Arbeit im Beckumer Zementwerk Phönix gezwungen.

Die Niederländer waren in Beckum besonders in der Landwirtschaft, wenige in der Zementindustrie oder bei der Reichsbahn eingesetzt. In der Kreisliste wird häufig der Beruf „Melker“ genannt. Es hat den Anschein, dass auf den großen Bauernhöfen Ehepaare, Geschwister oder ganze Familien gearbeitet haben. So sind auf dem Hof Stumpenhorst in Neubeckum sechs Mitglieder einer Familie Honcop genannt, der jüngste Sohn ist erst 1942 geboren. Auf dem Hof Westdickenberg in Beckum, Elker, war unter den 13 Niederländern die Familie Visser. Auf Gut Boyenstein in Beckum waren  18 Niederländer, dabei vermutlich drei Ehepaare.

 

Eine andere wichtige Quelle über die Zwangsarbeit sind die Tätigkeitsberichte der Beckumer Polizeistation.

Für die Zeit zwischen Januar 1942 und August 1944 liegen 1806 Tätigkeitsprotokolle durch die Polizeistation Beckum vor. Sie handeln u.a. von Anzeigen, Fliegeralarm, Diebstahl und Verstößen gegen die Verdunkelungspflicht. Etwa 200 Protokolle betreffen die Zwangsarbeit.

Hier sind u.a. Festnahmen von Kriegsgefangenen oder zivilen Zwangsarbeitern durch die Polizei oder die Wehrmacht  aufgeführt. Häufig handelt es sich dabei um die Festnahme  polnischer, ukrainischer oder russischer Zwangsarbeiter wegen Verlassen der Arbeitstelle in den Bauerschaften oder wegen Verweigerung der Arbeit. Auch eine Ablieferung der Zwangsarbeiter durch Bauern ist dokumentiert. In den Protokollen werden fast immer die Namen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter genannt, eine Übereinstimmung mit Namen aus der Kreisliste ist wegen der oft unklaren Schreibweise aber nur selten gelungen.

Durch diese Protokolle erhält man einen Einblick in die Struktur der Zwangsarbeiterüberwachung in Beckum. Häufig wird im Protokoll erwähnt, wo eine Kontrolle stattfand, z.B. im „hiesigen Russenlager in der Hühlstraße“ oder die Bezeichnung der Wachmannschaft, hier „Wachunterabschnitt Beckum der I. Landes-Schützen-Komp. 474“ oder die offizielle Bezeichnung eines Lagers, wie beim Lager Kollenbach mit „Kriegsgefangenenkommando 32“.

In den Protokollen werden die jeweiligen Maßnahmen der Dienststelle genannt;  Ein fehlendes Polen-Kennzeichen führt zu einer Geldbuße, Arbeitsverweigerung  führt zu  Gefängnis in Beckum oder zur Überführung an die Gestapo  in Münster. Gelegentlich nahm auch der Beckumer Ortsgruppenleiter der NSDAP, Rektor Kelle, an den Kontrollen teil.

 

Ein Protokoll:

P 1142: „Am 11.1.44 gegen 10 Uhr wurde ukrainischer Landarbeiter Iwan Padgacz, wohnhaft Beckum Hammerstraße No. 153  vorläufig  festgenommen und hier im Polizeigewahrsam untergebracht. P. steht in dringendem Verdacht als Ausländer mit deutschen Mädchen geschlechtlich verkehrt zu haben“. Am rechten Rand des Protokolls steht „Am 13.1.44 12:30 dem Amtsgericht zugeführt, am 22.2.44 7:19 Uhr  nach Gestapo Münster überführt.“

 

Bestürzend sind die Daten aus den „Lagerbüchern“ des „Entbindungs-und Abtreibungslagers in Waltrop-Holthausen“. Hier mussten auch Zwangsarbeiterinnen aus Beckum und Neubeckum entbinden oder abtreiben lassen.

Diese Lager, wie auch in Waltrop-Holthausen wurden in ganz Deutschland  auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes als zentrale Aufnahmestelle für schwangere Zwangsarbeiterinnen eingerichtet. Bei einem  „positiven Ergebnis der rassischen Untersuchung“ sollten die „förderungswürdigen“ Kinder in Heime der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt NSV oder in Familienpflegestellen kommen.

Bei negativem Ergebnis sollten die Kinder in eine Kinderpflegestätte für ausländische Arbeiterinnen kommen. Die Bedingungen für diese  Kinder waren so, dass ein großer Teil der Säuglinge vor Vollendung des ersten Lebensjahres starb.

Über die Frauen wurde ein Lagerbuch geführt, über Ankunft und Weggang und über die Geburten. In den Lagerbüchern sind  fünfzehn Zwangsarbeiterinnen aus Beckum und Neubeckum  genannt. Hiervon haben sechs Frauen ein Kind geboren. Über die anderen Frauen wird nur Ankunft und Weggang verzeichnet. In einigen Fällen ist auch der Name eines Bauernhofes in Beckum und Neubeckum genannt, von dem die Zwangsarbeiterinnen kamen.

 

Ich möchte eine Zwangsarbeiterin besonders erwähnen:

Bei den 15 Zwangsarbeiterinnen, die von Beckum nach Waltrop geschickt wurden, fehlt der Name Alexandra Klimkiewicz in den Lagerbüchern. Sie war Landarbeiterin auf einem Hof in Beckum  Dalmer, der Name des Hofes ist nicht genannt.  Die Lagerbücher enden Mitte Februar 1945, wohl wegen der anrückenden Alliierten. Alexandra Klimkiewicz hat in diesem Lager in Waltrop am 18.3.1945 die Zwillinge Maria und Josef geboren. Maria ist am 8. April, Josef am 9. April 1945 im Vinzenshaus in Beckum, Südstraße 13, verstorben. Beide Zwillinge wurden in einem Grab auf dem katholischen Friedhof in Beckum beerdigt. Der Grabstein hat allerdings eine falsche Inschrift: Das Sterbedatum 19.3.1945 ist falsch und es sind polnische Kinder, nicht russische, wie auf dem Grabstein steht,  da die Mutter laut Geburtsurkunde der Stadt Waltrop  Polin ist. Über das weitere Schicksal der Alexandra Klimkiewicz ist nichts bekannt. Vermutlich hat sie die Tage bis zu ihrer Befreiung noch auf dem Bauernhof im Dalmer gearbeitet.

 

Die Geburtsurkunde für die Kinder offenbart aber noch eine groteske „Normalität“. Angezeigt hat die Geburt  –wörtlich- der „Stellvertretende Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Gemüseerzeuger von Waltrop und Umgegend, eingetragener Verein“. Dieser Verein war der Träger des Entbindungs- und Abtreibungslagers in Waltrop; so konnten die Frauen vor und nach der  Geburt oder Abtreibung noch auf den Feldern arbeiten.

 

Nun zu den Gräbern auf dem Elisabeth-Friedhof

Auf dem Elisabethfriedhof sind etwa 35 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen beerdigt, die meisten Russen und Polen und ein Belgier und ein Grieche. Die Anzahl war ursprünglich höher;  die westlichen Länder  haben ihre Toten nach dem Krieg nach Hause geholt.

Bei den meisten ist nur der Name bekannt, bei einigen auch der Betrieb oder Bauernhof, meistens auch die Todesursache, bei einigen auch die Heimatadresse und der Ehepartner.

Auf dem kath. Friedhof in Neubeckum sind noch die Gräber von 2 Russen vorhanden.

 

Zur Befreiung der Zwangsarbeiter

Nach dem Einmarsch der Amerikaner in der Nacht zum 1.4.1945 (Ostersonntag) war der Krieg für die Beckumer, Neubeckumer und Vellerner Bevölkerung zu Ende. Die alliierte Besatzung ging sofort daran, die befreiten Zwangsarbeiter  möglichst schnell abzuschieben. Nach der Befreiung waren aber zusätzlich Tausende ehemalige Zwangsarbeiter aus dem Ruhrgebiet auf’s Land, auch nach Beckum  geströmt, weil man hier wohl bessere Lebensverhältnisse erwartete.

Zuerst und sofort wurde  Wohnraum für die alliierten Soldaten und befreiten Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter benötigt. Dafür wurden  am 10. April 1945 485 Wohnungen, insbesondere nördlich der WLE-Strecke, von den Alliierten beschlagnahmt. Hugo Schürbüscher hat darüber eine lesenswerte Arbeit verfasst, die auch online auf der Webseite des Heimat- und Geschichtsvereins Beckum abrufbar ist.

Die Zustände in der Stadt müssen katastrophal gewesen sein.

In einem Vermerk der Kreisverwaltung Beckum vom 14. April 1945 wird die Situation in Beckum  so beschrieben:

„…In der Stadt Beckum sind z.Z. 7.500 Ausländer untergebracht. Zur Versorgung dieser Ausländer müssen täglich zur Verfügung gestellt werden: Fleisch 300 kg, Brot 2800 kg, Kartoffeln 3000 kg…usw“  Zum Vergleich: Beckum hatte 1939 mit den Bauerschaften 14.350 Einwohner.

Dazu kamen jetzt noch etwa 2000  Geflüchtete und Vertriebene aus dem Osten und Westen Deutschlands.

 

Ende 1945 hatten die meisten ehemaligen Zwangsarbeiter die Stadt Beckum verlassen. Die Alliierten schickten sie per Bahn bis an die Grenze des jeweiligen Heimatlandes; von dort mussten sie meistens (zumindest in Polen, der Ukraine und Russland) den Transport selbst organisieren.

Einige  versuchten auch, hierzubleiben, was aber nur wenigen gelang.

Aus Oelde berichteten Zeitzeugen, dass sich dort mehrere russische Offiziere erhängten, um dem Rücktransport und der befürchteten Strafe in Russland zu entgehen.

Aus Neubeckum ist bekannt, dass es dort zwei polnischen Zwangsarbeitern  gelang, sich dem Abtransport zu entziehen.

 

Die befreiten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen versuchten teilweise mit Gewalt, sich Nahrung und Kleidung zu verschaffen, teils sich auch an den ehemaligen Herren zu rächen. Mancher Bauernhof ging in Flammen auf.

Die Bäuerin Elisabeth Willebrand aus Neubeckum, Angel 7, schreibt in ihr Tagebuch:

  1. April 45. Die Russen fangen an zu plündern. Lieber Gott steh uns bei.
  2. April. 12 Russen waren heute hier u. keiner geht, ohne was mitzunehmen.
  3. April. Frau Thiemann – der Nachbarhof- nachts um 12. Uhr von 4 Russen überfallen u. alles gestohlen. Kleidung, Fleisch, Eingemachtes; Schuhe, alles.
  4. April. Westhoff u. Stumpenhorst überfallen, alle Lebensmittel, Fleisch u. Wurst, Zeug abgenommen“.

 

Nach dem Sterberegister der Gemeinde Neubeckum ist am 2.6.1945  eine Bäuerin in der Bauerschaft Laake durch Kopfschuss getötet worden; Zeitzeugen berichten über ehemalige Zwangsarbeiter als Täter.

Und Gerd Recker  aus Neubeckum schreibt: “Sie zogen mordend und brandschatzend durch die Bauerschaften. Auch die MP war kein Herr mehr über diese Banden. Ich habe noch das abendliche Tuten der Nothörner im Ohr, mit welchem die Bewohner der überfallenen Höfe Hilfe herbeizuschaffen suchten“.

Dieses sind die Erinnerungen, die sich dann zum Thema Zwangsarbeit verfestigt haben.

Danach passierte viele Jahre nichts. Eine Befassung erfolgte in Deutschland erst mit  Beschluss des Bundestages vom 12.8.2000, als die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter  beschlossen wurde.

Hiermit sollte den zivilen, aber auch den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen eine „Anerkennungsleistung“  gewährt werden. Man ging davon aus, dass zu dieser Zeit nur noch etwa 4000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, bezogen auf ganz Deutschland, lebten. Die Überlebenden der Zwangsarbeit mussten ihren Anspruch auf Entschädigung glaubhaft machen durch Angaben über ihre Tätigkeit. Das war nicht immer möglich, denn in den Ausländerregistern der Gemeinden fehlten viele Namen. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten ist der  Schriftwechsel der Zwangsarbeiterin Anna Ewsenko aus der Ukraine mit der Stadtverwaltung.

Nach einer offensichtlichen Ablehnung durch die Verwaltung in Beckum schreibt Anna Ewsenko noch einmal, nennt noch einmal ihre Arbeitsdaten. Sie schreibt:

„Ich war gewaltsam nach Deutschland verschleppt und jetzt muss ich es demütig beweisen.“

Anna Ewsenko war in der  Zwangsarbeiterkartei der Stadt Beckum genannt, allerdings war ihr Name dort „Ewosenko“, aber mit korrektem Geburtsdatum, geschrieben. Letztlich führten die Angaben doch wohl dazu, dass ihr geglaubt wurde und sie die erbetene Bestätigung durch die Stadt erhielt. Ob sie eine Entschädigung erhalten hat, ist nicht bekannt.

Damit bin ich am Ende meines Vortrages.    Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

 

Sudbrock, Reinhold

Zwangsarbeit in Beckum

in der Zeit von 1939 bis 1945

 

Reihe

Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf

Bandnummer

64

Auflage

  1. Auflage

Umfang

243 Seiten, mit umfangreichen Listen und Abbildungen

Einband

gebunden

Erscheinungstermin

21.12.2023

Bestell-Nr

14292

ISBN

978-3-402-14292-9

Das Buch ist erschienen im Aschendorff-Verlag Münster.