Erinnerungen von Dr. Hermann Helming
Hermann Helming wurde am 12.11.1926 in Beckum geboren. Seine Eltern waren Maria und Hermann Helming. Sein Vater hatte sich 1922 in Beckum als Arzt niedergelassen. Die junge Familie wohnte zunächst in der Oststraße 15 bei „Drei-Kronen-Topp“, später in der Weststraße und 1933 zogen sie in ein neues Haus in der Alleestraße – später Adolf-Hitler-Straße.
Hermann Helmig erinnert sich:
Ostern 1933 wurde ich eingeschult. Reine Jungenklasse – 40 Kinder in langen Bänken -Kanonenofen im Raum – katholische Schule neben der Stephanus-Kirche. …..Der Unterricht war eindeutig katholisch geprägt – Lesen und Schreiben vermischten sich mit der Vorbereitung zur Erstkommunion – noch nichts von den Nazis. Es gab Fleißkärtchen und in der Ecke stehen – keine Schläge – unser gutes Fräulein Ulrich ……
Die Nazizeit begann. Für mich erst unbemerkt. …. Erinnerungen an die fahnengeschmückte Weststraße – die Erinnerung nur an schwarz-weiß-rot. ….
Mein Vater war Frontkämpfer gewesen, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, national gesinnt, Kriegerverein. Beteiligt an der Errichtung des Kriegerdenkmals in Beckum, enttäuscht von den Querelen der Weimarer Republik – Deutschland erwache! –„Siegreich wollen wir, wir dürfen’s ja nicht sagen, sterben als ein wackrer Held!“. Anfällig für den Nationalsozialismus. Aber doch liberal in seinen Grundfesten, verwurzelt im Katholizismus, wenn auch schweigend zweifelnd.
Meine Mutter war Mitglied des Zentrums. Streng gläubige Katholikin. Vorsitzende des Kath. Frauenbundes und des Kath. Fürsorgevereins für gefallene Frauen und Mädchen, Beckum. Intelligent. Vorausschauend. Meine Mutter wusste immer, was sich politisch ereignen würde. Natürlich wusste sie, dass Hitler eine Katastrophe war. ….
- Januar 1933 Hitlers Machtübernahme – Ostern 1933 Einschulung – Ostern 1937 Gymnasium und Eintritt ins Jungvolk – 1. September 1939 Kriegsbeginn – etwa 1941 Eintritt in die Hitlerjugend – Frühjahr 1944 Reichsarbeitsdienst – 3. Juli 1944 Einberufung zur Wehrmacht – 1. April 1945 Kriegsabiturzeugnis (später nicht anerkannt) – 12. April 1945 amerikanische Kriegsgefangenschaft – 8. Mai 1945 bedingungslose Kapitulation – 31. Dezember 1945 Entlassung nach Hause. ….
Am 30. Januar 1933 war ich sechs – bei Kriegsbeginn zwölf – mit siebzehn bin ich Soldat geworden und mit neunzehn war ich Veteran!
Zunächst verlief das Leben in den gewohnten Bahnen. ….. Das Leben war gut strukturiert. Ich habe mich darin wohlgefühlt.
Zum beginnenden Nazieinfluss erinnere ich mich noch an einen Sonntagnachmittag …..wohl Sommer 1933: Mein Vater hatte mit dem NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps) einen Sonntagsausflug gemacht und kam wohl mit braunem Hemd zurück. Meine Mutter machte ihm eine Szene – sie wies ihn wohl auf die Gefährlichkeit der Nazis hin. Ich glaube, das genügte. Er ist weder in das NSKK noch in die NSDAP eingetreten – schon gar nicht in die SA – das war ein Proletenklub – das NSKK etwas elitärer.
Bedrückend war 1932/1933 die Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut – die Arbeitslosenversicherung bestand erst seit wenigen Jahren. Diesen sozialen Unterschied merkte ich schon mit meinen sechs oder sieben Jahren.
Im Dezember 1933 zogen wir in unser neues Haus in der Alleestraße – später Adolf-Hitler-Straße. Ich sollte mit einem unserer Dienstmädchen mit unserem Bollerwagen meine Spielsachen umziehen - …… da kamen wir an einer langen Schlange abgerissener Arbeitsloser vorbei, die vor dem Arbeitsamt standen. Die Erinnerung prägend – soziales Gewissen? …..
Ja, das neue Haus. 1930 hatten sich meine Eltern an der Alleestraße ein großes Grundstück gekauft. In der großen Wirtschaftskrise ging es meinem Vater finanziell relativ gut. Der Architekt Schade hatte einen vom Bauhaus geprägten Plan gemacht. Am 28. Mai 1933 war die Grundsteinlegung. ….
Mein Vater schrieb in das neue Gästebuch:“… Es ist uns nicht leichtgefallen den Bau zu finanzieren, aber Hitlers Wort: ‘Sozial ist, was Arbeit schafft‘ und der Glaube an Deutschlands Wiederaufstieg hat uns Mut gemacht.“ …. Mitte Dezember 1933 sind wir eingezogen. …….
Ostern 1935 kam ich in die dritte Klasse. Eine neue moderne Schule – die Ketteler-Schule - ….. jetzt nicht mehr Fräulein Ulrich – sondern ein Lehrer, der mit dem Rohrstock regierte -in die ausgestreckte Handfläche – Massenbestrafungen, wenn der Täter nicht ermittelt war – wir saßen in modernen Zweierbänken – rechte Seite aufstehen – Hand hinhalten – jeder einen Schlag. Ich war empört in meinem Gerechtigkeitsgefühl. Lernen taten wir auch nicht viel.
Am 7.Oktober 1935 wurde ich gefirmt……. Gefirmt wurden wir von unserem Bischof Clemens August Graf von Galen. ……. Clemens August wurde an der Kirchspielgrenze mit der Kutsche abgeholt und vierspännig von Reitern begleitet nach Beckum „eingeholt“. Er blieb mehrere Tage. Bei der Firmzeremonie stand ich vor dem riesigen Mann und bekam einen fühlbaren Schlag auf die Wange – ich empfand das als religiöse und politische Verpflichtung. Clemens August wurde wegen seiner Predigten und Hirtenbriefe gegen die Nazis „Der Löwe von Münster“ genannt. Er war unser geistiger Führer. ….. Ein Demokrat war er nicht!
Ostern 1936 kam ich in die vierte Klasse. … Rektor Röschenbleck – der Leiter der Ketteler- Schule – übernahm die Klasse. Er wusste wohl, dass hier ein Lerndefizit entstanden war – es waren mehrere „prominente“ Kinder (auch ich) in der Klasse, die unbedingt auf das Gymnasium sollten. Das hat Rektor Röschenbleck mit Erfolg gemeistert: Rechtschreibung, Koppfrechnen, Grundrechenarten, auf den Stock konnte er verzichten. Er hatte eine natürliche Autorität. In der Schule waren noch keine Auswirkungen der Nazi-Herrschaft zu merken. …….
Aber – ich meine mich zu erinnern, dass damals schon zu Beginn der Ferien und wieder zu Beginn der Schule alle Klassen und Lehrer vor der Schule antreten mussten – die Hakenkreuzfahne wurde gehisst – das Deutschlandlied (Deutschland, Deutschland über Alles….) wurde gesungen und danach das Horst-Wessel-Lied (Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. SA marschiert in gleichem festen Schritt….) – der rechte Arm musste hochgehalten werden – er tat weh. In der Stadt sah man mehr braune Uniformen und braune Kolonnen: Jungvolk, HJ, SA.
Es begann die Judendiskriminierung. …. Meine erste Wahrnehmung, dass es Juden gab, war ein kleines Erlebnis: Die Kinder aus der Nachbarschaft streiften durch die Gärten und sammelten Weinbergschnecken, die es in Beckum reichlich gab. Ich fragte, was sie damit wollten. Sie brächten sie zu den Juden, die zahlten dafür – ich dachte: Ein normaler Mensch isst keine Schnecken. Die Juden sind anders.
Meine Mutter hatte einen Dackel namens Stroppi. Der bellte fürchterlich, wenn ein Stiefelträger auf unser Haus zukam – meistens Naziuniformierte. Meine Mutter sagte dann: Das ist sein jüdisches Blut. Sie hatte den Hund von einem Juden geschenkt bekommen. So harmlos fing es an. Später empörte sich meine Mutter, dass die Nazis die jüdischen Geschäfte auf der Nord- und Oststraße sabotierten, in denen sie gerne einkaufte. In Beckum gab es zwei jüdische Ärzte – beide wanderten in diesen Jahren - also sehr früh – nach Israel aus und bauten Orangen an – erzählten mir meine Eltern.
Ostern 1937 kam ich zum Gymnasium in die Sexta – damals hieß das noch so – grüne Mütze – jeder Jahrgang hatte eine andere Mützenfarbe. ……Ich musste jetzt auch zum Jungvolk. Ich glaube, es war damals schon Pflicht. Alle gingen jedenfalls hin. Meine Mutter sagte: Einer von uns muss in eine NS- Organisation - …….-ich könne das am besten verkraften. …… Einiges war ganz schön – Geländespiele, Ballspiele, Singen. In Reih und Glied marschieren schon schlechter – und Heimnachmittage mit Lebenslauf des Führers und sonstigen Nazigeschichten waren schrecklich.
Meine Eltern galten damals schon dem „Regime“ nicht zugeneigt, obwohl mein Vater eine Rolle im Kriegerverein spielte. Er hatte sich als Reserveoffizier im Range eines Stabsarztes aktivieren lassen und Übungen gemacht. Er trug am Revers ein kleines EK II und EK I und die Frontkämpferspange und machte sich dadurch fast unangreifbar. Als Arzt hatte er ein Fastmonopol in Beckum. …….
Ich war also zehn, als ich das erste Mal mit dem Naziregime konfrontiert wurde. Es war so wie es war. Ich musste mich dem fügen. Ich begriff natürlich anfangs nichts. Wir sangen im Jungvolk mehr oder weniger schöne Lieder – Refrains wurden eingesungen: „Hängt die Juden , stellt die Bonzen an die Wand!“ und: „Die Juden ziehn dahin daher – sie ziehn durchs rote Meer – die Wellen schlagen zu – die Welt hat Ruh.“ ….. Was Bonzen waren, wusste ich nicht, konnte mir auch keiner erklären. Aber warum Juden so schlecht waren, dass man sie hängen musste, wusste ich auch nicht. …..
Wie schon erwähnt, wurden die jüdischen Geschäfte boykottiert. …Ich konnte das nicht einordnen. Das änderte sich am 9. November 1938. ……. Am Abend des 9. Novembers war ich früh zu Bett gegangen. ….. Plötzlich hörte ich das Telefon klingeln, mein Vater sprang mit einem hörbaren Satz aus dem Bett und verschwand. …… Er war von der Pfortenschwester des Krankenhauses – einer Ordensschwester – angerufen worden, sie wisse nicht was sie tun solle, vor dem Krankenhaus stünden Juden, die herein wollten, die Polizei habe ihr aber gesagt, sie dürfe niemanden hinein lassen. Mein Vater war leitender Arzt des Belegkrankenhauses. Er fuhr sofort zum Krankenhaus und regelte die Probleme, versorgte die verletzten Juden.
Auf dem Rückweg ging er durch die Stadt – Markt – Nordstraße – Alleestraße und sah, was passiert war – die Geschäfte zerstört – die Synagoge ausgebrannt. Er wurde in ein Haus gerufen und musste den Tod eines älteren Juden – Herrn Stein – feststellen. Keine äußeren Verletzungszeichen. Er war sein Patient gewesen und er wusste, dass er herzkrank war. Er war wohl durch die Aufregung gestorben.
Keiner sollte am 10. November das Haus verlassen – damit wollte man dem allgemeinen Protest Ausdruck geben – eine Art passiven Widerstandes. Durch die Alleestraße führte die SA einen Pferdewagen – darauf wurde eine Frau zur Schau gestellt, zu der sich ein Jude geflüchtet hatte – sie wurde als ‚Judenhure‘ diffamiert.
Trotz des selbst auferlegten Ausgehverbots beschlossen meine Eltern, dass ich in Begleitung unseres Zweitmädchens – Paula – durch die Straßen gehen solle. Wir gingen: Hühlstraße – Nordstraße, - Alleestraße. Ich war 11 Jahre alt. 2 Tage vor meinem zwölften Geburtstag. Ich bin an diesem Tag politisch erwacht und danke meinen Eltern heute noch für diesen Entschluss. …..
Die Nazis spielten in Beckum nicht die dominierende Rolle, die sie anderswo spielten. Das katholische Milieu leistete Widerstand. Die führenden Nazis waren gescheiterte kleinbürgerliche Existenzen, die man nicht ernst nahm. Man kann auch sagen, man unterschätzte sie. Natürlich traten auch Opportunisten der NSDAP bei. Sie waren zwar für die Nichtnazis ungefährlich, aber es waren eben doch Hitlers „willige Helfer“, die das System zum Erfolg führten. ……
Einmal musste unsere ganze Schule nach Neubeckum (etwa 4 km) marschieren, um am Bahnhof Spalier zu bilden, weil Hitler mit dem „Duce“ – Mussolini – im Schnellzug vorbeifuhr (Strecke Köln – Berlin). ……
Nach den Olympischen Spielen 1936 empfand man den Druck geringer, der wirtschaftliche Aufschwung war deutlich, keine Arbeitslosigkeit mehr, die Autobahn Berlin – Köln wurde fertig - die heutige A2 – die an Beckum vorbeiführt.
Dann kam das Jahr 1939. Die Agressivität der Nazis nahm zu. …… Dennoch ging das bürgerliche katholische Leben in Beckum weiter – unser Bischof Clemens August war das Leitbild. ……
Am 1.September 1939 begann der Krieg. …… Es war ein Freitag. Die allgemeine Stimmung war schlecht. Meine Mutter nahm mich morgens zur Frühmesse mit in die Kirche. Sie betete und weinte bitterlich. Noch hatte man Hoffnung, dass der Überfall von Polen ein begrenztes Ereignis war – meine Mutter wusste es von vorneherein anders. Sie sah die Katastrophe.
Am 3. September 1939, einem Sonntag, erklärten Frankreich und England den Krieg. Die Besorgnis stieg. …. Die Luftschutzkeller mussten bereit gemacht werden. …… Unser Keller war als öffentlicher Luftschutzkeller ausgewiesen, da das Haus drei Betondecken hatte. Jetzt wurde der Keller gasdicht gemacht. Die Kellerfenster wurden abgedichtet und vor der Kellereingangstür wurde ein Vorhang aus aufgeschnittenen Säcken gehängt. Daneben ein Wassereimer. Beim Gasangriff sollte die Sackleinwand benetzt werden. Gleichzeitig mussten vor allen Fenstern Verdunklungen angebracht werden – es bestand die gesetzliche Pflicht zur allgemeinen Verdunklung. ……
Mit Kriegsbeginn habe ich in meinem „Kinderzimmer“ auch die Landkarten der Kriegsgebiete aufgehängt, den Wehrmachtsbericht täglich ausgewertet und die Ortsangaben mit bunten Stecknadeln markiert. So konnte ich den Frontverlauf ständig verfolgen. …..
Eine weitere Informationsquelle waren die Soldaten auf Urlaub. Vor allem nach der Sonntagsmesse bildeten sich vor der Kirche Trupps, in denen die Soldaten von ihren Schrecken erzählten – sie waren überfordert und mussten das loswerden. Zum Beispiel Erschießungen in Polen. Ich schlich herum und hörte zu. …..
Im Winter 1939/40 bekamen wir in Beckum Einquartierung von der SS Division „Das Reich“. …. Die SS war gefürchtet. Schwarze Uniformen, scharfe Disziplin, fast religiös auf den „Führer“ ausgerichtet, skrupellos. …… Man konnte die SS-Männer nicht einordnen. Man hielt sich zurück. Meinen Eltern gelang es, dass wir nur Einquartierung von niedrigen Chargen bekamen.
Die jungen Mädchen in Beckum sahen das anders. Es kam zu Verbindungen – auch eines unserer Hausmädchen. Bei der Eheschließung kam das Problem der Religion auf. Katholische Trauung und katholische Kindererziehung war nicht erwünscht. …..
In meiner Schule – der Oberschule für Jungen- veränderte sich anfangs wenig. …… Die jungen Lehrer wurden zu Beginn des Krieges „eingezogen“ (zur Wehrmacht) – darunter litt der Unterricht – wir hatten es nur mit den „alten“ zu tun – einige Nazis, aber erträglich – andere konservativ, nicht Nazis. Die Schule bekam einen neuen Direktor – Keuker -, der zwar in der NSDAP war und deshalb den Posten bekommen hatte, aber doch liberal war. …… Die Schule behielt den liberalen Grundzug. ……
Der Unterricht wurde modernisiert, die Sütterlinschrift abgeschafft – irgendwann wurde der Klassenwechsel von Ostern auf den Herbst verlegt – die Gymnasialzeit auf acht Klassen verkürzt – ab etwa 1940 kamen Mädchen auf die Schule, die zuvor die „Höhere Töchterschule“ abgeschlossen hatten – die Schulmützen wurden 1939/40 zu unserem Bedauern abgeschafft. …… Bis etwa 1941 lief der Unterricht relativ störungsfrei. Jungvolk und Hitlerjugend fanden außerhalb der Schule statt.
Anfang 1940. Der Krieg ging weiter - …… Gelegentlich gab es Fliegeralarm durch ab- und aufsteigende Sirenentöne, meistens abends. Dann versammelte sich die Nachbarschaft, die sonst nicht zusammenkam, in unserem Keller. Es wurde viel erzählt – manches Fläschchen geleert – man blieb auch nach der „Entwarnung“ – langer Sirenenton. ….. Gelegentlich fielen ein paar Bömbchen ins freie Gelände. Das war eine Sensation. Wir mussten hin, um Bombensplitter zu suchen. ……
Ein Phänomen ist mir in Erinnerung: Man war zwar gegen die Nazis – den Krieg wollte man aber gewinnen! Die Wehrmacht war eine gute Wehrmacht! Und der Versailler-Vertrag war eine Schande! …..
In den nächsten Wochen und Monaten spürten wir nicht viel vom Krieg. Das öffentliche Leben war militarisiert – alles war rationiert – es kamen die Todesnachrichten von gefallenen Soldaten – aber relativ wenige. Französische Kriegsgefangene arbeiteten in allen Fabriken und Bauernhöfen, um die eingezogenen Soldaten zu ersetzen. Gehungert wurde aber nicht – noch nicht. …..
Die Schule ging seinen Gang. …. Die Lehrer waren aus unserer Sicht alt – also etwa 45 – 50. …. Wir hatten eine gute Klassengemeinschaft. Einen Klassensprecher oder etwas Ähnliches gab es nicht – zu demokratisch. Problematisch war, dass der Sohn des Ortsgruppenleiters und der Sohn des Nazi-Bürgermeisters zu uns kamen. Sie wirkten aber wie Fremdkörper. Sie waren die schlechtesten Schüler und durften nicht „sitzen bleiben“ – das half den anderen. Man musste aber aufpassen, was man sagte. Es gab KZs – das wusste man – dort herrschte kein Recht – und was sonst noch geschah, darüber sprach man nicht. Sie waren eine Drohung.
Mit vierzehn – also Winter 1940/41 – kam ich in die HJ. Ein schrecklicher Verein, vor allem langweilig – Antreten sonntagmorgens um 10 Uhr – Herumstehen – Exerzieren – Singen. Es gelang mir, in die Flieger-HJ zu kommen. Das war schon besser. Zweimal abends in der Woche Basteln an Handsegelflugzeugen – ein Drückeberger-Verein. ……
Es war Krieg. ….. Die Nazis herrschten. ….. Es wurden ständig Menschen hin und her geschoben. Männer wurden zum Militär berufen oder mussten, wie auch die Mädchen, zum Arbeitsdienst. Zivilisten wurden „abkommandiert“ und „zwangsverpflichtet“ zu irgendwelchen kriegswichtigen Tätigkeiten – Organisation Todt. Kriegsgefangene verschiedener Nationen kamen und verschwanden wieder. Man konnte sich nur beschränkt bewegen. Die Juden hatte man aus den Augen verloren – viele waren ausgewandert – plötzlich waren alle verschwunden. Das fiel eigentlich niemandem so recht auf, weil eben alle Menschen hin und her geschoben wurden, ohne nach ihren Wünschen zu fragen. …..
Der 22. Juni 1941 war ein Sonntag. …. Der Krieg gegen die Sowjetunion hatte begonnen. ….. Wo blieben die Millionen russischer Kriegsgefangenen? Es kamen nur wenige bei uns zur Arbeit an. Millionen verhungerten – auch das erfuhr man durch Gerüchte – meistens von Soldaten auf Urlaub – denn das war ein Phänomen dieser Kriegsjahre – bis Ende 1944 kamen die Soldaten regelmäßig auf Urlaub. Sie konnten nicht schweigen – nicht alle! Mein Vater wurde zur Zementfabrik Bomke-Bleckmann gerufen. Dort waren etwa zwanzig russische Kriegsgefangene angekommen zur Arbeit. Die Frau, die sie zu versorgen hatte, sah die verhungerten Gestalten und kochte ihnen eine kräftige münsterländische Kartoffelsuppe mit viel Speck – zwölf starben – mein Vater konnte nicht helfen – nur die Frau für die Zukunft aufklären.
Der Winter kam früh. Moskau und Leningrad sollten noch erobert werden. …. Mitte November setzte der Frost ein – bis minus 35 Grad. Die Soldaten waren darauf nicht vorbereitet – in der „ Heimat“- also bei uns – wurde eine propagandistisch aufgeblähte Sammelaktion gestartet: Alles an Winterausrüstung – Kleidung, Skier und ähnliches sollte gespendet werden und wurde auch gespendet. Es nutzte nichts. Die Soldaten erfroren in Sommerausrüstung – die erste große Niederlage war perfekt. …
Der Krieg wurde ernster und griff mehr und mehr in das tägliche Leben ein. Die Luftschutzalarme häuften sich. …. Nachtangriffe – wir standen im Garten, sahen die „Christbäume“, mit denen die Angreifer die Ziele markierten – sahen die Lichtscheinwerfer der Flak, sahen die Leuchtspurmunition und hörten die Bombeneinschläge und Flugzeugmotoren. Beim nächtlichen Alarm lief bei uns alles nach Plan. Jeder hatte seine Aufgabe. Ich musste schnell aufstehen, zum gegenüberliegenden Haus laufen und Zwillinge in einem Korb in unseren Keller tragen (Geissendörfer). Gelegentlich fielen bei uns Brandbomben, die wir sammelten und zerlegten. Sprengbomben fielen in Beckum nur gelegentlich. Einmal traf eine Bombe die Hauptgasleitung. Es entstand eine hundert Meter hohe Gasflamme. Die Gaszufuhr war unterbrochen, aber schnell wieder repariert. …..
Die Belastung durch Krieg und Mangel wurde größer. Die Nachtalarme störten den Schlaf. Tagesalarme nahmen zu und störten den Unterricht. Zunehmend fiel der Unterricht aus. Der Religionsunterricht in der Schule wurde verboten. Mit großem Aufwand haben meine Freunde und ich … den Unterricht in den Keller der Liebfrauenkirche verlegt. Wir haben erreicht, dass die größte Zahl unserer Mitschüler dahin kam. Kaplan Soddemann machte den Unterricht. ….
Im Winter 1941/42 hatten wir trotz Krieg und Toten Tanzstunden. …. Tanzunterricht war zwar noch nicht verboten, von der HJ wurde das aber boykottiert, aber ohne Erfolg. Der Saal bei Topps am Markt im ersten Stock, der knarrende Tanzboden, der Geruch nach Bohnerwachs und schwitzenden Jungen und Mädchen ist eine bleibende Erinnerung.
Am 20. Oktober 1942 wurde ich von der SS gemustert. Das war eine sehr gefürchtete Prozedur. ….Da ich schwarze Haare hatte, entsprach ich nicht der SS-Vorstellung vom arischen Menschen. Man schickte mich ungeschoren nach Hause. Soviel ich weiß, passierte aber auch den anderen nichts.
In diesem Winter 1942/43 machte ich auch meinen Führerschein. Der war „kriegswichtig“, weil ich meinen Vater fahren musste – deshalb auch ab sechzehn erlaubt. …. Ich fuhr meinen Vater außerhalb der Schulzeit durch Bauerschaften – nach Wadersloh und Liesborn – bei schlechtem Wetter – Nebel – Dunkelheit – mit luftschutzverdunkelten Scheinwerfern. ….. Die Benzinversorgung wurde schlechter – in den letzten Monaten des Krieges konnte er (der Mercedes) nicht mehr gefahren werden. Mitte 1945 wurde der Wagen von den Engländern beschlagnahmt – konfisziert – und war verloren. ….
Die Stimmung in Beckum – im Münsterland – war angespannt. Man war vor allem katholisch – streng katholisch. Der Kirchenbesuch am Sonntag war selbstverständlich ….. Bischof Clemens August …… wandte sich in Hirtenbriefen und Predigten gegen die Auswüchse der Nazis. Akzeptierte aber Adolf Hitler als Reichskanzler und hielt den Krieg für gerecht. ….. Die Abgrenzung der Bevölkerung gegen die Nazis nahm zu, aber man stellte die staatliche Autorität nicht infrage. Die Nazis in Beckum waren sehr unterschiedlich. Es gab Fanatische in geringer Zahl, viele waren Mitläufer und Opportunisten, einige sonnten sich in ihrer braunen Uniform – die „Goldfasanen“. ….. Es gab viele, die glaubten, Katholisches und Nazitum miteinander vereinbaren zu können. Es wuchs aber die Erkenntnis, dass nach Erledigung der Juden die Katholiken „dran“ waren – aber wohl erst nach dem Endsieg. In diesem Spannungsfeld bewegte man sich. Echten Widerstand oder Sabotage gab es nicht. Jeder tat mehr als seine Pflicht in seinem Umfeld. …..
Am 1. September 1943 wurden die meisten aus meiner Klasse Luftwaffenhelfer. Sie kamen nach Münster. Einige Lehrer gingen mit. Der Rest der siebten Klasse wurde mit der achten Klasse zusammengelegt. ….. Der viele Wechsel zeigt schon, dass an einen ernsthaften Unterricht nicht mehr zu denken war. Im Dezember hatten wir lange Ferien, die bis zum 6. Januar 1944 dauerten. Das war uns gar nicht recht. Wir organisierten einen Ersatzunterricht, der bei uns zu Hause im „Kinderzimmer“ stattfand – auf unseren Wunsch. Carlchen Buhl kam dreimal die Woche. Die Beteiligung war sehr gut. …..
Im Jahre 44 erwarteten wir die Entscheidung. Der Invasionsversuch wird kommen. ……
Damit war das friedliche Leben endgültig beendet. …. Da ich kein Luftwaffenhelfer war, bekam ich einen Einberufungsbefehl zu einem KLV Führungslehrgang – wohl unter Mitwirkung meiner Eltern. Ich war jetzt siebzehn – der Wehrdienst rückte näher und damit die extreme Gefährdung meines Lebens. Meine Eltern hofften, mich damit vor RAD und dem Wehrdienst bewahren zu können – das traf aber nicht zu, wie sich später herausstellte. Aber sie stimmten zu. …. Jedenfalls wurde ich von der HJ nach Podiebrad bei Prag geschickt – zu einem KLV- Führungslehrgang. …..
Wenige Tage war ich zurück, da kam schon der Stellungsbefehl des RAD. Den Arbeitsdienst musste man genau so leisten wie den Wehrdienst. …. Der Dienst war hart, die Gesinnung war eindeutig nationalsozialistisch. …..
Nach der Entlassung versuchten wir wieder in Beckum ein normales Leben zu führen. Nach und nach kamen die meisten Klassenkameraden vom RAD zurück. Wir besuchten sogar gelegentlich wieder die Schule – feierten viel. …..
Wir warteten auf die Einberufung zur Wehrmacht und wir wussten, was das bedeutete. Mir war Zeit bis zum 3. Juli gegeben – also knappe sechs Wochen. In unserem Haus veranstalteten wir einen echten, großen Abschiedsball mit Partnerauslosung, Tanz, Wein, Bowle – wirklich ein Tanz auf dem Vulkan. Ein anderes Mal – nach einem Besäufnis bei Vössken Schrulle zogen wir alkoholisiert durch die Stadt, sangen laut und warfen Luftschutzschilder um – Halbstarkenbenimm. Wir wurden erkannt – das war gefährlich – wir wurden zur Polizei bestellt – das hätte man bis zu Gefängnis und KZ aufblähen können – aber man entschied sich zur Verharmlosung – jeder musste eine Spende an das DRK zahlen – die Eltern natürlich. Am 3. Juli war es dann so weit. Ich wurde Soldat. …….
Meine Eltern in Beckum litten unter den ständigen Luftalarmen, verfolgten die Angriffe auf Münster und immer wieder Hamm- Tiefflieger nahmen auch zivile Ziele ins Visier. Aachen wurde geräumt. Das Haus in Beckum war voll mit der Familie aus Aachen – zehn bis fünfzehn Personen mussten auch dreimal am Tag etwas zu Essen haben – immer mehr kamen Flüchtlinge aus dem Rheinland und den zerbombten Städten – die Schulen waren mit Flüchtlingen belegt. Dass das erst der Vorgeschmack auf 1945 war, konnte man nicht ahnen. ….
Am 21. Oktober wurde Aachen von den Amis eingenommen – die erste deutsche Stadt. Vorher war der Befehl zur Evakuierung gekommen - ….Unser Haus verwandelte sich in eine „Kaserne“, wie meine Mutter schrieb. Die Versorgung dieser vielen Menschen lag bei meiner Mutter – Rationierung – Knappheit – langes Anstehen in den Geschäften – mein Vater bekam nur noch zehn Liter Benzin im Monat – Hamstern bei den Bauern wurde schwieriger. ….. Die Tieffliegeraktivität nahm zu. Sie machten Jagd auf Eisenbahn und Autos. …. Zu Weihnachten waren zwanzig Menschen im Haus. …..
Letzter Brief 25.2.1945: „Ja, mein Kind, man denkt und sinniert den ganzen Tag und sieht kein Loch durch all‘ die Schwierigkeiten. Die Besetzung durch die Amerikaner steht wie ein Berg vor einem. Vor allem wegen der vorausgehenden Luftangriffe. Aber oft geht ja auch alles besser als man denkt und vielleicht geht doch der Krieg mal plötzlich zu Ende. …..
Die Alliierten waren am 24.März am Niederrhein zwischen Wesel und Emmerich über den Rhein gegangen. ….. Irgendwie kamen wir in mehreren Tagen auch mit LKWs und zu Fuß bis Stromberg – wir waren nur noch zu dritt – …… Es war Nacht. Der Verkehr lief nur noch nachts wegen der Tiefflieger. Wir trennten uns. Ich hielt einen PKW an - …. – in Beckum stieg ich aus und ging nach Hause. Es war die Nacht von Mittwoch, dem 27. zu Donnerstag, - Gründonnerstag – den 28. März.
Freude für meine Eltern – aber sofort, wie geht es weiter? Die Amis rückten näher, das wusste man. …..Man wartete gespannt auf die nächsten Tage – ständig waren Tiefflieger unterwegs – sie schossen – warfen aber meistens keine Bomben – man gewöhnt sich an alles – das Krankenhaus hatte sich fast in ein Lazarett verwandelt – mein Vater betrieb Kriegschirurgie. Der kleine Bunker in Clemens Bomkes Vorgarten war fertig.
Ich blieb zu Hause – war ich Durchreisender oder Fahnenflüchtiger?? – auch SS war in der Nähe und die konnten kurzen Prozess machen. Ich stand auf unserem Balkon, als ein Tiefflieger über uns raste – er ließ etwas fallen – ich warf mich hinter die Mauer – es war aber nur ein Zusatztank, der in einen Nachbargarten stürzte.
Dann kam der Karsamstag – der 31. März 1945. ….. Am frühen Nachmittag hörte ich Panzermotoren und -ketten aus Richtung Ahlen. Ich entschloss mich abzuhauen – hab noch mit meinem Vater telefoniert – das ging noch – ihm fiel auch nichts Besseres ein. Ich war in Uniform, aber unbewaffnet – kein Karabiner – kein Stahlhelm, da auf Abstellungsreise. …… Am Ausgang der Stadt – bei der Zementfabrik Phönix – wurde ein Lebensmittellager geplündert – ich erwischte eine Kiste mit Butterschmalz und trug sie auf der Schulter fort. Vor uns auf dem Mackenberg standen – schon immer – mehrere Funkmasten – es knallte und sie fielen in sich zusammen. …..
Was tun? – ich, ein unbewaffneter deutscher Soldat! Und ohne Kriegslust – auch kein Held und die große US-Army? Ich wollte Schluss machen – wollte auf die andere Seite – die Amis hatten Flugblätter abgeworfen, die eine Gefangenenbetreuung nach der Genfer Konvention versprachen.
…. Donnerstag, den 12, April 1945, …. Wir gingen zur Messe in die Stephanuskirche – ich beichtete – kommunizierte – verabschiedete mich – wir gingen beide zur Kommandantur. Wir wurden gefilzt – mein Kompass verschwand. Theo Windhövel durfte nach Hause gehen. Ich wurde kassiert. …. Jetzt war ich Prisoner of War. ……
Am 28. Dezember 1945 – Antreten – ärztliche Untersuchung – unterschreiben, dass man nach der Genfer Konvention behandelt worden sei – tatsächlich Entlassung? ……
Dann fuhr tatsächlich ein Zug nach Neubeckum – umsteigen – Zug nach Beckum. Ich stieg aus- acht Uhr abends – dunkel – ich ging zum Bahnhofswirt und fragte, ob ich telefonieren könne und ob die Telefonnummern noch die alten seien – er fragte. wer ich sei – Hermann Helming! – da wurden ihm sichtlich die Knie weich – meine Mutter war in den vergangenen Wochen häufig am Bahnhof gewesen, um zu sehen, ob ich nicht doch noch käme – das war bekannt. Er griff unter die Theke – holte eine Flasche Schnaps – eine Rarität – und schenkte mir einen Schnaps ein. Willkommen!
Ich rief zu Hause an – es funktionierte – Werner Schulze war am Telefon – ich sagte, „Ich bin am Bahnhof und komme jetzt nach Hause“. Schweigen! – vor Verblüffung!
Ich ging den wohlbekannten Weg – neunzehn Jahre alt – gekleidet in amerikanische Uniformteile – PW auf dem Rücken – mit einem deutschen Fahrermantel – geeignet für zwanzig Grad unter null – getauscht gegen Essbares. Ein Veteran. Noch nicht volljährig. ….
Der Krieg war auch für mich zu Ende.