Interview mit Irmgard Mester geb. Schmülling am 17.11.2020
Diese Bücher gehören in die Schule
Irmgard Mester wurde 1936 als älteste Tochter des Stellmachermeisters Heinrich Schmülling und seiner Frau Ida geb. Bürsmeier geboren. Die Mutter war Schneidermeisterin. Irmgard hatte noch eine Schwester, Helga, und zwei Brüder, Heinz und Werner. Die Familie wohnte in der Spiekerstraße bei Meermeiers, der Arbeitsplatz des Vaters war direkt um die Ecke in der Werkstatt Linnenschmidt.
Der Kindergarten, den Irmgard besuchte, befand sich im Vereinshaus an der Vellerner Straße, nur ein paar Minuten von ihrem Zuhause entfernt. Auch die Schule lag nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt, an ihre Lehrer kann sie sich noch gut erinnern: Fräulein Binnewitz, Lehrer Strunk, Fräulein Barkhaus, Lehrer Vinus, Lehrer Schwarze. In der Schule befand sich auf dem Dachboden eine Seidenraupenzucht, für die die ganze Klasse an den Tannen Lorbeerblätter sammeln musste. Auch Lindenblüten und Huflattich wurden gesammelt, die in der Apotheke zu Tee für die Soldaten verarbeitet wurden. Ein Jahr ging sie gar nicht in die Schule, es gab zu wenig Lehrpersonal, da die Lehrer fast alle in den Krieg mussten. Später ging sie entweder morgens oder nachmittags zur Schule, es wurde in Wechselschichten unterrichtet.
Irmgard konnte sich nicht an das Kriegsgeschehen gewöhnen, sie hatte oft Angst, besonders wenn das Haus durch die Bomben erschüttert wurde. In Neubeckum fielen häufig Bomben, man wollte die wichtige Bahnstrecke von Köln nach Berlin zerstören. Da Irmgards Familie im 4. Stock wohnte, mussten sie oft nachts bei Bombenalarm runter in den Keller laufen. Eines nachts wurde der Fußgängertunnel bei Hüttemann bombardiert. Es entstand ein großer Bombentrichter am Bahndamm.
Der Vater von Irmgard war nicht im Krieg, es gab, soviel sie weiß, keine Gefallenen in ihrer Familie.
Die Mutter hat während des Krieges für die Bauern genäht, z.B. wurden Soldatenmäntel gewendet und zu neuen Kleidungsstücken verarbeitet. Sie bekam dann Milch und andere Lebensmittel dafür. Der Vater hatte in dieser Zeit eine Ölmühle gebaut, so konnten sie aus den Bucheckern, die sie in den Wäldern sammelten, Öl produzieren. Irmgard erinnert sich, dass ihre Mutter einmal Reibeplätzchen gebacken hat, das war etwas Besonderes, weil es eigentlich so gut wie gar kein Öl gab. Als Irmgard an diesem Mittag zum Milchwagen musste, sagte eine Frau, dass es so lecker nach Reibeplätzchen rieche. Irmgard hat ganz unschuldig geguckt und nichts verraten. Die Familie hat im Krieg keinen Hunger gelitten.
Zum Kartoffelaufsuchen ging man zum Bauern Stumpenhorst, auch liegengebliebene Ähren wurden auf den Feldern gesammelt, die Körner wurde zu Mehl gemahlen. Der Vater von Irmgard war ein geschickter Bastler und hatte eine Spindel auf die Nähmaschine seiner Frau gebaut. Man sammelte die Wolle der Schafe, die sich am Zaun verfangen hatte und die Mutter spann Wolle daraus. Die Oma strickte Socken und Pullover für die Familie.
Irmgard Mester hat sich als Kind Gedanken über die Kinder gemacht, die einen gelben Stern an ihrer Kleidung trugen. Sie hat in der Schule gefragt und zur Antwort bekommen:“ Das sind Juden, schreckliche Menschen“. Erwachsene hörte sie reden, dass die Juden in Kuhwaggons gesteckt würden. Sie fand das schrecklich.
Die Schule war einige Wochen von Russen besetzt. Als sie eines Nachmittags auf einer Bank saß in der Nähe der Schule, kam ein "Russe" auf sie zu, drückte ihr einen Packen Bücher in die Hand und sagte:“ Diese Bücher gehören in die Schule“. Es waren Bildbände, die sie dann später auch zurückgegeben hat.
Aus Aachen kamen viele Flüchtlinge nach Neubeckum. Sie waren ausgebombt worden und mussten nun untergebracht werden, da wurde es oft eng in den Wohnungen. Auch aus dem Osten kamen Flüchtlinge, zu Fuß, mit geplünderten Bollerwagen, sie sprachen komisches Deutsch. Auch Familie Schmülling musste Räume abgeben.
Als nach dem Krieg die ersten amerikanischen Soldaten mit ihren LKWs durch die Spiekersstraße fuhren, stand Irmgard mit ihren Geschwistern am Fenster. Man hatte ihnen eingeschärft, nur kein Fenster zu öffnen. Die Kinder staunten, noch nie hatten sie schwarze Menschen gesehen. Die Soldaten winkten den Kindern zu, lachten und hatten Bananen in der Hand. Die Kinder hatten noch nie Bananen gegessen und konnten der Versuchung nicht widerstehen. Sie öffneten das Fenster und die freundlichen Soldaten warfen Bananen und Schokolade hinein.